Tag&Nacht

Montag, 5. Januar 2009

Das vorletzte Buch

Und dann saß ich plötzlich meinen wahren Eltern gegenüber. Im Zug nach Hause.
Sie waren schon alt, nun nicht so alt wie meine Großeltern. Aber beide hatten schon graue Haare, Falten, vor allem Lachfalten, und verschmitzte Furchen um die Augen herum. Ich hatte sie zunächst gar nicht bemerkt, ich hörte Musik (…) und las den vorletzten Band mit Kurzgeschichten von Murakami.
“Hast du deine Tablette genommen?”, hatte ich eine Stimme fragen gehört. “Ja, schon um viertel nach Acht”, antwortete jemand. “Ja, du hast deine Tablettte genommen?” fragte die erste Stimme nochmal. “Jaha”, kam die Antwort. Und ich dachte genauso nachdrücklich “schon um viertel nach Acht!”. Dann blickte ich auf. Sie hatte kurze Haare. Einen weinroten Pulli, der aussah wie ein Männerpulli, einen ebenso roten Schal und einen Rollkragen. Er trug einen dunkelblauen Pullunder und darunter ein Hemd, hellblau, glaube ich. Mein Vater hatte Locken. Und einen Bart wie Super Mario.
Ich legte das Buch auf den Tisch zwischen uns und schaute halb offen in ihre Richtung. Meine Mutter sah mich an und deutete fragend auf das Buch. “Ist das gut?”, las ich von ihren Lippen ab. Während ich nickte, nahm ich die Kopfhörer raus. “Achim hat mir früher immer Bücher von dem gegeben”, sagte sie in seine Richtung. Er nickte. Sie sahen mich beide an und ich erklärte ihnen, dass dies der vorletzte Band mit Kurzgeschichten von ihm sei und dass ich bereits alles von ihm gelesen hätte. Beide nickten. Mein Vater lächelte.
“Ich finde, er kann wunderbar die Bewegungen der Seele beschreiben”, sagte ich.

Mittwoch, 3. Mai 2006

Gestern, sepiafarben.

Man sollte auch dann schreiben, wenn es einem so geht, wie es mir gerade geht. Gut.
Es gibt Menschen, die in klaren Nächten kurz zum Himmel sehen; ein Flugzeug über Stadtdächer davon blinken sehen und dabei einen permanenten Schauer, ja ein Gewitter von Sternschnuppen zu bewundern glauben. Glücksverheißend.
Ich bin auch so.
Es ist leicht, zu schreiben, wenn man sich berufen glaubt, von Schrecklichem berichten zu müssen. Auf den Spuren erdachter, selbst gewählter Sorgen zu wandeln, rigeroser Aufmerksamkeit verbunden.
Aber die Befürchtungen des Augenblicks sind mit dem Flieger über den Dächern verschwunden.
Ich lege ein Gestern ein.
Und das was tief unter den kleinen Besorgungen der Welt stetig kauert?
Übermalen.

Montag, 20. Februar 2006

Das Drama des betagten Kindes

Es gibt eine Zeit im noch jungen Leben, in der man sich einbildet, alles tun und sein zu können, was man sich vorstellen kann.
Irgendwann, das bringt das Erwachsenwerden mit sich, muss man dann lernen, sich von diesem Traum zu verabschieden. Aber nicht ohne ihn richtig zu deuten.
Aus dem beruhigendem Wissen, dass man Kunst, Wissenschaft oder das rein pragmatische Leben wählen könnte, wird Gewissheit. Gewissheit, mit Angst einschließlich, dass die Zeit des Allseinkönnens vorbei ist und dass eine Entscheidung her muss. Im Glücksfall fängt man einfach an, etwas von dem zu tun, das man am ehesten seiner Veranlagung und seinem Geschick entsprechend glaubt.
Was folgt ist eine Weile des intensiven Aufgehens und daher eine Identifikation mit dem Medium seines Schaffens. Wehe dem Zweifel daran. Plötzlich dann stellt man fest, dass dieses probeweise Leben einer Möglichkeit schon andauert und zu einer Entscheidung geworden ist.
Ein schrecklicher Moment. Weicheierasyl

Es sollte den Menschen vielleicht nicht davon abhalten, die gewählte Beschäftigung zu offiziellem Ende zu bringen, aber eine Erinnerung an die Allseinkönnenzeit tut gut.
Es war ja nur eine, ganz selbst erwählte Weise, unser Dasein zu fristen.
Es kann eng werden, wenn eine Möglichkeit zu einziger Wirklichkeit wird. Zu beiden Seiten einer Entscheidung gibt es Räume nicht angenommener Perspektive. Gibt es noch eigenes Seinkönnen. Im Alter sich mit einer Möglichkeit zu vermählen mag weise sein - jetzt darf man noch offen bleiben…

Heutiger Gegenentwurf zum Gärtnern: Surfshop, wo’s warm ist. Rockstar oder Schauspieler.
Diogenes der Postmoderne? Ach nein, das hatten wir ja schon.

Philosophie war die Mutter aller Wissenschaft. Jetzt da ihre Kinder in Vielfalt und immer steter Vielfalt ins Leben gekommen sind, kann sie gehen und endlich aufhören. Kann sich mit der Religion ins Nähzimmer setzen und bei weichem Keks und kaltem Kaffee alte Märchen neu erzählen.

Freitag, 17. Februar 2006

...

Dalí Raphaelesque Head Exploding

Mittwoch, 8. Februar 2006

Pragmatische Information

Vortrag im KogWis-Kolloquium. Ein Physiker spricht über dynamische Semantik. Nie war Formalität schöner. Nie ein Nichtverstehen beim Schritt von klassischen semantischen Operatoren zu nicht klassischen, komplementären (Quantentheorie) schmerzensreicher. Und ich schreibe: "Conquered, why there has to be an end of philosophy".

Samstag, 4. Februar 2006

Traum

Ich trug einen magischen Ring an meinem Mittelfinger. Er war ein bisschen zu groß. Der Ring beschützte mich. Es gab nichts Böses. Nur die Augen meiner Freunde wandelten sich in ein unangenehm gruseliges Gelb. Die Welt war zu retten. Und aus Frodo geht Fodor.

Ich schwamm neben Walfischen ("Was, der sprüht Wasser nur von einem Meter unter der Oberfläche?! Da lohnt sich doch das Foto nicht.") und nahm Tauchunterricht in einem riesigen, künstlichen Ozean.

Eine Welle riß mich mit (ich hatte das Mundstück in meine Nase gesteckt - ich fragte mich, ob ich genug Sauerstoff bekommen würde) und ich verlor die Orientierung. Da war kein Sand. Nur Wasser in vier Dimensionen. Ich sollte mir Mühe geben, recht bald an die Wasseroberfläche zu gelangen, die nächste Welle kommt doch ...

Das Gefühl kenne ich. Nur einmal im Leben, im Atlantik, vor 7 Jahren.
Faszinierend, wie mein Gehirn diesen Geistes- und Körperzustand im Traum in beängstigender Pracht ein zweites Mal reemuliert?!

Montag, 2. Januar 2006

Sonnenklar!

Ich habe einen Hang zur beherzten Übernahme augenblicklich plausibel anmutender Erklärungen meiner eigenen seelischen VerfassungEN.

Dachte ich im letzten Jahr noch, ich würde an einer jahreswandelbedingten Depression leiden. Seelischer, tiefdunkler Verstimmtheit ob des einmal mehr nicht angefertigten Jahresrückblicks und der Ausbildung beträchtlicher im Geiste äußerst detailliert und formschön gefertigter Handlungs-Vorhaben, die da den Boden des Wirklichen eindringlichst zu tasten fordern.

Kann ich schon in diesem berichtigend und Erleichterung verschaffend sagen:
Aber nein! Ich schlafe in diesen Nächten nicht nur hervorragend, sondern auch tief und vor allem lang.
Und dass mir die Motivation, die mich erwachend, noch im Bette verharrend durchströmt, in den nächsten Minuten und Halbstunden, mit Kaffee und Übergangsfrühstück abhanden kommt, liegt nur daran:

Ich bin nicht, sondern habe und leide aufrichtig unter
Sad!

Ein Artikel in MIND (Nr.3/2005) verspricht Erhellung. Ein kleines Neuronenbündel, der SCK (suprachiasmatic nucleus) kümmert sich um die Verarbeitung von täglichen und saisonalen Veränderungen des Tageslichts. Der SCK ist der Meister des Chronos, unsere innere Uhr. Scheint uns die Sonne ins Auge, beginnt dieses Neuronenbündel schneller zu feuern und behält diese Feuerungsrate den Tag über bei, bis es am Abend inne hält und es einen Melatoninschub gibt, (Appetit, Aktivität, soziales Kontaktverhalten, Sexualtrieb und Schlafbedürfnis beeinflussend) der uns schläfrig werden lässt.
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Nun feuern die SCK-Neuronen in Frühling und Sommer deutlich länger als in Herbst und Winter, d.h. es gibt nicht nur ein tägliches, sondern mit den Jahreszeiten wechselndes Niveau an Melatoninzufuhr.

SAD-Sufferer, wie ich es seit Neuestem bin, scheinen überdies mehr von dem Zeug abzukriegen. So zeigt sich, dass bei uns der nächtliche Melatonin-Zyklus ca. 38 Minuten länger andauert.

Wenig Sonnenlicht im Winter, auf Grund von Schlafenszeiten bis weit in den Nachmittag hinein, dunkle, womöglich noch fensterlose Räume sind die besten Voraussetzungen, das SCK-Bundle ans Melatonin zu verlieren.

Deshalb empfiehlt der Autor LICHT. Soviel Licht, damit auch der traurigste Nachtfalter bemerkt, dass es Tag ist und kein Grund für tiefdunkle Schläfrigkeit.
Intensives Licht (Sonne oder viel stärkeres, als die meisten Raumbeleuchtungen aufweisen) sagt den Chrono-Neuronen, dass es Tag ist, dass der Melatoninzyklus stoppen soll.

Ich habe also seit gestern Festbeleuchtung in meiner Wohnung und trage einen selbstgebastelten Ausweis "SAD-Leidende-braucht-LICHT" mit mir herum, den ich den Leuten in der S-Bahn zeige, wenn sie den Platz auf der Sonnenseite in Beschlag genommen haben.

Und verstehe mein permanentes Fern- und Sonnenweh und das innere Seufzen, wenn ich ein Reisebüro mit einladenden Long-Distance-Angeboten passiere, einmal nicht als verwöhnte Globetrotterattitude.

rEzent

Das vorletzte Buch
Und dann saß ich plötzlich meinen wahren Eltern gegenüber....
Fluchtfliege - 5. Jan, 03:05
Gestern, sepiafarben.
Man sollte auch dann schreiben, wenn es einem so geht,...
Fluchtfliege - 3. Mai, 00:13
Freiheit
Ein schöner Text unter der Rubrik : " Die Unfähigkeit...
Reh Volution - 9. Apr, 13:13
Immer diese Entscheidungen....
Immer diese Entscheidungen. Sind schon mal wie eine...
nafreilich - 24. Feb, 19:04
@braindamagedpatient
Ich bin kein Physiker, das Folgende sind deshalb auch...
Köppnick - 21. Feb, 19:38
@köppnick
Hm, die Physik, die Du beschreibst kenn' ich eigentlich...
braindamagedpatient - 21. Feb, 15:59
@braindamagedpatient
Deine unendlich kleinen Punkte, die einen wohldefinierten...
Köppnick - 21. Feb, 08:43
@Köppnick
Wenn das mit der diskreten Welt stimmte, müsste dann...
braindamagedpatient - 20. Feb, 22:05

à lirE

dahiN


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